Dario Ranza
Restaurant Ciani
Lugano





«Wir Köche sind Egoisten, eigentlich kochen wir für uns selbst. Ich koche, was ich gerne esse. Ich stelle mir vor, wie ein Gericht in meinem Mund schmecken wird. Und dann mache ich es. Solange, bis ich zufrieden bin.»

Dario Ranza
Restaurant Ciani
Lugano





«Wir Köche sind Egoisten, eigentlich kochen wir für uns selbst. Ich koche, was ich gerne esse. Ich stelle mir vor, wie ein Gericht in meinem Mund schmecken wird. Und dann mache ich es. Solange, bis ich zufrieden bin.»

Ursprünglich aus Bergamo stammend, kam Dario Ranza im Alter von zehn Jahren nach Genf. Seine Eltern, die in der Schweiz arbeiteten, erhielten dann die Aufenthaltsbewilligung und konnten die Familie nachkommen lassen. Im Erdgeschoss des Mehrfamilienhauses, wo der kleine Dario aufwuchs, befand sich eine Bäckerei, und der Kleine verdiente sich schon früh ein Taschengeld, indem er einmal in der Woche die Backbleche sauber kratzte. Er mochte die Stimmung in der Backstube und hatte gerne Pâtisserie. «Mit fünfzehn musste ich mich entscheiden, was ich tun wollte. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich die Schule weiter besuchen oder eine Lehre – vielleicht als Bäcker-Konditor – antreten wollte. Nach einer Schnupperlehre in einem Restaurant stellte ich fest, dass ich gerne in der Küche arbeitete und dass das Kochen mir mehr Freiheit liess als das Herstellen von Pâtisserie. Ich hatte das grosse Glück, einen Lehrmeister zu haben, der mir die Leidenschaft für das Kochen vermittelte. Auch später hatte ich immer wieder Vorgesetzte, die mich förderten und meine Phantasie beflügelten. Und auch wenn es in einer Küche mal laut wurde, war ich mir immer bewusst, dass dies im Stress geschah und nicht aus Bosheit. Heute gebe ich manchmal meinen jungen Mitarbeitern einen freundschaftlichen Klaps in den Nacken; sie wissen aber, dass ich sie gerne mag, wenn ich das tue, und dass es eine Art Anerkennung für ihre Arbeit ist. Wenn ich genervt bin, fasse ich niemanden an. Gewalt ist absolut unnötig, das geht gar nicht!» Nach seiner Lehre arbeitete Dario Ranza eine Saison lang in Lugano, dann ging er nach Gra-bünden. «Von der Sprache her ging das gut; es hatte viele Italiener in der Küche und im Service. Dann, an der nächsten Saisonstelle in Flims, gab es schon mehr Deutschsprachige. Ich hatte in der Schule ein wenig Deutsch gehabt, aber ich war kein Champion, ich kannte ein paar Wörter. Und dann lernte ich meine zukünftige Frau kennen, eine Deutschschweizerin. Wir sprachen ein wenig Deutsch, weil sie damals noch kein Italienisch konnte. So kam eines zum anderen. Unterdessen geht es mit dem Deutsch recht gut; ich war während vielen Jahren in den Prüfungskommissionen für das eidgenössische Küchenchef-Diplom, da wird deutsch oder französisch gesprochen. Beim ‹Schwyzerdütsch› kommt es auf den Kanton an; mit dem Oberwallis habe ich so meine Probleme, aber Basel, Zürich oder Bern geht recht gut. Ich spreche auch noch immer den Dialekt von Bergamo. Ich gehe von Zeit zu Zeit zurück in die alte Heimat; seit kurzem wohnt meine Schwester wieder dort, dann sprechen wir lombardisch.»

Zwischen den Saisonstellen arbeitete Dario Ranza jeweils für zwei, drei Monate in Restaurants in der ganzen Schweiz, zum Beispiel im ‹Goldenen Sternen› in Basel. «Das war immer sehr unterhaltsam und ich konnte viele Erfahrungen sammeln. Denn in der Wintersaison a-beitete ich immer in Hotels. Und damals unterschied sich die Hotelküche noch sehr stark von der Restaurant-Küche. Im Hotel gab es dreihundert Gedecke, dreihundert Mal Halb- oder Vollpension, dreihundert Portionen Kartoffeln, dreihundert Suppen; das war nicht kreativ, das war eher kochen mit System.»

Bei den Saisonstellen wechselte er und versuchte, in möglichst guten Häusern zu arbeiten. Als er im ‹Parkhotel› (heute ‹Kempinski›) in St. Moritz angestellt war, hatte er einen guten Draht zum Küchenchef, einem älteren Franzosen, der schon während vielen Jahren dort arbeitete und die Hotelszene gut kannte. Er sagte ihm, er würde gerne im ‹Palace› arbeiten, doch dieser riet ihm davon ab. «Er sagte mir ‹Nein, geh' nicht dorthin. Da wirst du der Commis für Chefs de Partie sein, die keine Ahnung haben, was sie tun.› Er schickte mich ins ‹Parkhotel Flims›, wo ich während drei Jahren blieb. Dort lernte ich die richtig grosse Hotelküche kennen. Wir arbeiteten alle in der kompletten Kochmontur, wenn man unrasiert zum Dienst antrat, musste man eine Busse bezahlen, sich rasieren gehen und schnell wieder zurückkommen. Wir bezahlten auch Bussen fürs Zuspätkommen; es war eine symbolische Busse, die in die Sparbüchse der Küche kam. Ende Jahr wurde mit dem Geld ein Fest gefeiert. Jeden Morgen versammelten wir uns; es gab einen Tisch für den Chef und die Chefs de Partie; einen Tisch für die Commis und einen für die Lehrlinge. Der Chef setzte sich um 8.05 Uhr an den Tisch und degustierte das Gebäck, das der Bäcker jeden Morgen lieferte. Wir mussten warten, bis der Chef sein Gipfeli oder Milchweggli gegessen hatte, dann durften wir uns an den restlichen Brötchen bedienen. Der Chef sah sich jeweils um und schickte die Lehrlinge weg, um diejenigen zu wecken und holen zu gehen, die noch fehlten. Um 8.30 Uhr fing die Arbeit an, da gab es keine Diskussionen. Es herrschte jedoch eine gute Stimmung, es braucht halt einfach Disziplin in einer so grossen Küche.»

Danach kam Dario Ranza ins Tessin. Ein Kollege vermittelte ihm eine Stelle im Hotel ‹Lago di Lugano› in Bissone. «Jedes Mal, wenn ich etwas geplant hatte, ergab sich eine andere Gelegenheit, aber ich habe nie etwas bereut. Das ‹Lago di Lugano› und sein Direktor waren ihrer Zeit weit voraus. Es war schon damals ein richtiges Resort mit dreihundert Betten, einem Schwimmbad am Seeufer, einem Spa und Anlegeplätzen für Boote. Der Direktor liess uns Kurse besuchen über Personalführung und Küchenmanagement, was für mich sehr interessant war, denn ich lernte, dass es neben der Küche in einem Gastronomiebetrieb noch ganz viele andere Dinge gibt. Ich arbeitete fünf Jahre dort als Sous-Chef und wechselte dann ins Hotel ‹Olivella›, wo ich nach einem halben Jahr Küchenchef wurde und vier Jahre blieb. Eines Tages sagte der Chef de Service zu mir: ‹Du, der Chef des Hotel-Restaurants ‹Principe Leopoldo› isst heute hier. Ein paar Tage später rief mich eine Dame an. Sie sei die Sekretärin dieses Herrn, er wolle mit mir sprechen. Sie verband mich mit ihm. ‹Wann fangen Sie bei uns an?›, fragte dieser mich. Ich war überrumpelt, ging es mir aber ansehen. Die Küche war nicht besonders, aber das Hotel war sehr eindrücklich. Es wurde 1926 im Auftrag des Kavallerie-Generals Friedrich Leopold von Hohenzollern, Prinz von Preussen, erbaut und diente während Jahrzehnten als dessen Sommerresidenz. Ich sagte dem Chef, ich wolle es versuchen. Darauf meinte er: ‹Du kommst. Du machst, was du willst. Wann fängst du an?›. Ich sagte, ich könne nicht vor Oktober kommen. ‹Nein, das geht nicht. Jetzt ist Mai, du fängst sofort an!›, erwiderte er. Nein, ich hätte eine Saison geplant, Köche eingestellt, mich verpflichtet. Wenn er mich sofort wolle, dann käme ich nicht. Nach zwei Tagen rief er mich an und sagte ‹Wir haben uns entschieden, auf Sie zu warten.› Ich habe die Stelle als Küchenchef übernommen und bin dreissig Jahre dort geblieben, das muss man sich mal vorstellen.» Doch irgendwann kam der Moment, wo Dario Ranza nicht mehr glücklich war. Während dreissig Jahren hatte er seine Entscheidungen frei treffen können, doch nun bahnte sich ein Wechsel an, der ihm nicht passte. Nach seiner Kündigung bat ihn der Direktionspräsident um ein Gespräch. «Ich erzählte ihm, was geschehen war, doch der Präsident meinte ‹Du erzählst nur von Gefühlen, Empfindungen, es gibt ja gar nichts Konkretes, das dich stört.› Da antwortete ich ihm: ‹Siehst du, das ist eben der Unterschied zwischen dir und mir. Du bist Buchhalter, ich bin Koch. Ich arbeite mit dem Herzen, mit dem Bauch. Bevor ich alles hinschmeisse, gehe ich›. So habe ich nur schöne Erinnerungen an die dreissig Jahre im ‹Leopoldo›. Zu diesem Zeitpunkt war ich bereit, die Herausforderung anzunehmen und das Ciano Lugano wieder neu zu beleben.»

Dario Ranza hat an mehreren Kochwettbewerben mitgemacht; der für ihn eindrücklichste war der ‹Bocuse d’Or›. Dabei handelt es sich um einen internationalen Kochwettbewerb, der 1987 von Paul Bocuse ins Leben gerufen wurde und alle zwei Jahre in Lyon ausgetragen wird. «Ich bewarb mich bei Philippe Rochat, dem bekannten welschen Küchenchef, der während fast 20 Jahren drei Michelin-Sterne und 19 Gault-Millau-Punkte hielt. Er entschied, ich könne am Schweizer Finale teilnehmen, welches ich gewann. Und dann wurde es plötzlich ernst, mein Commis und ich sollten in Lyon die Schweiz vertreten. Eigentlich hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt gar nicht realisiert, was das alles bedeutete. Es gab ja noch kein Internet, man konnte sich nicht richtig informieren. Wie wir uns vorbereiteten, würde ich als ‹prähistorisch› bezeichnen im Vergleich zu den Möglichkeiten, welche die Teilnehmer heute haben. Wir mussten zwei komplette Gerichte für vierzehn Personen kochen. Wir machten das Ganze vier Mal, jedes Mal machte ich Fotos und schickte sie an Rochat. Dieser gab mir Tipps, was ich noch ändern oder anpassen sollte. So sind mein Commis und ich in einem kleinen Kastenwagen nach Lyon gefahren, mit dem ganzen Material und einem Teil der Produkte – wir wussten ja nicht, ob wir in Lyon alles bekommen würden. Der Wettbewerb fand in einer grossen Halle statt, worin sich zwölf Boxen von etwa drei mal zweieinhalb Metern mit je einer Küche befanden. Es gab eine Tribüne mit rund 1500 Zuschauern, es herrschte ein Höllenlärm, es lief laute Musik und die Presse störte einen ständig. Es gibt Nationen, die haben für die Teilnahme ein Budget von eineinhalb Millionen Franken, wir hatten überhaupt kein Budget. Ich musste praktisch alle unsere Probegerichte verkaufen; Gäste von Service-Clubs haben während drei Monaten Loup de Mer und Lamm gegessen. Wir präsentierten unsere Gerichte auf zwei Platten aus Inox, die uns ein Kollege geliehen hatte; die Argentinier hatten ein Ding aus Silber mit einem Wert von 50 000 Dollar, von einem Künstler geschaffen. Wir wurden Zwölfte und waren zuerst enttäuscht, doch immerhin waren wir die einzigen aus der Schweiz und hatten den Mut, uns einem Wettbewerb mit der ganzen Welt zu stellen. Nach diesem ‹Bocuse d’Or› reklamierte Philippe Rochat, der für die Schweizer Auswahl verantwortlich war, in der Presse, die Schweiz habe überhaupt keinen Support. Das zeigte Wirkung, heute haben wir die ‹Academie Suisse du Bocuse d’Or›, welche die Kandidaten unterstützt.»

Welche Befriedigung findet Dario Ranza heute in seinem Beruf? «Eine innere Zufriedenheit. Wir Köche sind Egoisten, eigentlich kochen wir für uns selbst. Ich koche, was ich gerne esse. Ich stelle mir vor, wie ein Gericht in meinem Mund schmecken wird. Und dann mache ich es. Solange, bis ich zufrieden bin. Dann teile ich es mit meinen Gästen. Ich finde, der Beruf des Kochs ist ein Handwerk. In allen Handwerken gibt es manchmal einen Künstler, auch unter den Köchen. Aber es gibt auch viele Künstler, die Konkurs machen. Ich mag das philosophische Getue um die Küche nicht. Wir bereiten Essen zu. Am ‹Bocuse d’Or›-Wettbewerb sagte ein Journalist zu Paul Bocuse: ‹Sie sind derjenige, der die Köche aus der Küche an die Öffentlichkeit geholt hat!› Darauf antwortete Bocuse: ‹Ja, aber jetzt wäre es Zeit, dass sie wieder in die Küche zurückkehren›. Am meisten hasse ich Speisekarten, wo steht ‹Der Chef empfiehlt› oder ‹Die Spezialität des Chefs›. Was soll das? Ist der Rest auf der Karte nicht gut? Wenn ein Gericht mir als Chef nicht gefällt, dann schreibe ich es doch nicht auf die Karte!

Worauf ich wirklich stolz bin, ist der ‹Mérite Culinaire›. Dieser Preis wurde 2020 geschaffen, um die Verdienste von Köchen zu ehren, die sich besonders für die Schweizer Gastronomie und das kulinarische Erbe der Schweiz eingesetzt haben. Jedes Jahr werden vier KandidatInnen ausgezeichnet und erhalten durch ein Mitglied des Bundesrats diesen Preis. Ich habe ihn im ersten Jahr erhalten – zusammen mit Irma Dütsch, Othmar Schlegel und Frank Giovannini. Das ist ein bisschen wie ein Orden des ‹British Empire› oder das deutsche Bundesverdienstkreuz.»